Verbrenn’ Dir ruhig mal die Finger, lieber CEO

Claudia Bayer, Redaktionsleitung Fischer’s Archiv, schlug mir vor, etwas für Fischer’s zu schreiben. Den Gefallen tat ich ihr gerne.

Das Format war perfekt, meine bislang 3 Texte zum CEO nicht nur zusammenzufassen, sondern einen vierten Part (Verbrenn’ Dir ruhig mal die Finger, lieber CEO) und ein Ende hinzuzufügen (der nun übergreifende Titel ‘Lebe Dein Leben! stammt übrigens dankenswerterweise von Claudia). Zum .pdf-Download bitte hier klicken.

 

Lebe Dein Leben!

Zu oft überlassen wir unser Schicksal den äußeren Umständen, überhören unsere innere Stimme. Hoffen auf unsere Vorgesetzten, die Märkte, die Zukunft. Dafür aber ist dieses Leben zu kurz!


I. Dein CEO wird Deine Agentur nicht retten

Deine (Network-)Agentur ist ein Verwaltungsgefängnis – kein Gestaltungs-Freiraum. Dein CEO ist der Direktor dieser Anstalt, die Dein Denken in Excel-Zellen gefangenhält.

Ihm ist egal, wer in welcher Zelle sitzt. Hauptsache, seine Rechnung geht auf. Da kann er sich keine Variablen leisten, keine Unwahrscheinlichkeiten und keine Unschärfen.

Er setzt auf Berechenbarkeit, etwas anderes hat er nicht gelernt. Linearität. Und etwas anderes wirst Du nie von ihm lernen. Du bist nur das Rädchen in seinem Uhrwerk, mit Fleiß die Felge an seinem neuen Firmenwagen. Du bist ein Nichts, ein Niemand, Du bist nichteinmal eine Idee. Du existierst nicht.

Die schlauesten Deiner Kunden würden Deine Erste Führungsriege nicht für alle Rabatte dieser Welt in ihrem Unternehmen beschäftigen. Sagt Dir das nicht genug? Dein CEO, Deine Geschäftsführer, die können das aussitzen, die machen das seit Jahren. Die tauschen eher das ganze Team dreimal aus, ehe sie selbst auf der Straße sitzen.

Bist Du etwa dümmer als die schlauesten Deiner Kunden? Schalte ihn endlich wieder ein, Deinen Gesunden Menschenverstand, den Du abgabst an Deinem ersten Tage, hinterließest an Eurem Empfang, längst verstaubend im Keller, direkt hinter Kreativität, Vielfalt und Innovation.

Dein CEO kann Deine Agentur nicht retten. Er kann vor lauter Konzentrationsschwäche, Hyperaktivität und Impulsivität keinen klaren Gedanken fassen.

Er kann den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Er steht tief im Tunnel und kann den Silberstreif am Horizont nicht erkennen. Er ist kurzsichtig, blind wie ein Maulwurf. Unfähig, zu handeln, sich zu bewegen. Ein Gregor Samsa der Agentur. Unfähig, sich zu wandeln. Unfähig, voranzugehen. Unfähig, Dich zu inspirieren.

Denn das alles hat er nicht gelernt, das alles hat er nie gebraucht. Er wurde nach oben gespült von der Verwaltung des Mangels. Hat sich allein mit seinen Ellbogen nach oben gearbeitet, er nannte dies ‘Leistung’. Immer begleitet von Deinem Kopfschütteln, Du erinnerst Dich!?

Dein CEO kann Deine Agentur nicht retten. Er will und kann die Agentur, die Branche, das Paradigma nicht wandeln, zu neuen Horizonten führen, in das unbekannte Land Zukunft, das weit ausserhalb seines Gesichtskreises, seiner Sinne liegt. Eine Kreativbranche, die eher -brache ist, voller CEO-Klone.

Er selbst ist das Paradigma, der Status Quo, den er erhalten will. Er ist das, wovor Deine Eltern Dich immer gewarnt haben. Dein CEO ist die Alte Welt, das letzte Jahrtausend. Dein CEO ist Sancho Pansa und Windmühle in einem. Nebenkriegsschauplätze sind seine Ersatzbefriedigung. Sein ganzes Glück. Seine einzige Ausrede. Deine Träume sind sein Albtraum. Seine einzige Sorge.

II. Dein CEO wird Deine Marke nicht retten

Träume, die hat er selbst nicht mehr, Dein CEO. Erfolgreiche Marken und Agenturen und Produkte jedoch sind Manifestationen eines Traumes – und vieler Träume. Sind Visionen einer besseren, im besten Sinne einfacheren, und einer bedeutungsvolleren Welt.

So ist denn auch die Aufgabe eines guten CEO, “die Menschen von ihren Träumen und den Träumen ihres Unternehmens zu überzeugen”, so jedenfalls Kevin Roberts, der weltweite Saatchi-CEO.

Dein CEO aber und das Top-Management nehmen der Marke und dem Marketing den ‘Raum für Träume, rauben ihm die Luft zum Atmen’ (Arno Gruen nennt das übrigens den Wahnsinn der Normalität):

“- Natürlich ist Marketing heute einfallslos. … Marketing ist zeitlich zu Quartalsmarketing verkommen und wurde inhaltlich ein geronnener Prozess, der einen unbeweglich in einer Zwangsjacke aus Verwaltung, Zahlen & Fakten und Betriebsblindheit zurücklässt.

– Natürlich ist Marketing heute mutlos. … Mut, kreatives Scheitern und Risikofreude werden von Bonussystemen abgestraft.

– Natürlich ist Marketing heute lustlos. … Wie soll man Leidenschaft entwickeln, wenn um einen herum alles wie abgestorben wirkt?

– Natürlich ist Marketing heute zahnlos. … Marketing muss heute politisch überkorrekt sein und traut sich nicht mehr zu polarisieren.”
(Mutige CEOs gesucht, wiwo.de)

III. Die Welt musst Du schon selbst retten

Agenturen und Märkte und die Welt werden nicht von Deinem CEO gerettet. Sie werden von Mut, Weitblick, Visionen, Rückgrat, Leidenschaft gerettet. Gerettet von denen, die Märkte infragestellen, transzendieren. Gerettet von denen, die die neue Individualität, Unabhängigkeit und Ungeduld der Menschen verstanden haben und ihr mutig vorangehen. Zum Wohle und wahren Wohlstande der Marke, der Agentur, des eigenen Umfeldes.

Dein CEO kann Dich nicht retten. Rette Dich selbst. Fordere Dich selbst heraus, wenn es schon sonst keiner mehr tut – und bestimmt nicht Dein CEO.

Werde Dein eigener CEO. Versammle jene um Dich herum, die Dich, sich und uns alle retten können. Die motivierten Mitstreiter, engagierten Kunden und passionierten Marken. Kultiviere das Denken, die Intuition, die Leidenschaft, die Dich retten kann. Die, die Dich abends ruhig schlafen lässt und morgens tatendurstig aus dem Bette treibt. Kultiviere die Kultur. Kultur ist die neue Strategie.

A. Mache Dich selbst überflüssig, lieber CEO

Als distinktiver CEO …

… kennst Du 1) das ganze Unternehmen, jeden einzelnen Mitarbeiter, alle Ecken und Kanten, die Marke, ihre (hidden) Assets und Potentiale, Finanzen, Produktion, Vertrieb und weißt, was jede/n Einzelne/n antreibt.

… und Du kennst 2) die Lieferanten, Partner, Kunden, Konsumenten. Kennst ihre Probleme, Ängste, Sehnsüchte und weißt, was sie antreibt.

… kennst Du 3) die anderen Branchen wie Deine eigene und weißt, was sie antreibt.

… kennst Du 4) die Shareholder/Investoren, ihre Bedenken, Wünsche, Forderungen, Eigenheiten und weißt, was sie antreibt.

… kennt Du 5) die Politik(er) und weißt, was sie antreibt.

Bist Du als CEO dann nicht der wertvollste Mensch des gesamten Unternehmens? Der Einzige, der diesen 360Grad-Rundum- und -Über-Blick hat!?

Müsstest Du daher nicht den ganzen Tag den Wald trotz der ganzen Bäume sehen können? Müsstest Du nicht Muster erkennen, Märkte transzendieren, das Undenkbare denken können? Müsstest Du nicht (sozusagen) in der Zukunft leben? Müsstest Du nicht eine Vision haben?

Solltest Du nicht genau dafür den ganzen Tag Zeit haben? Solltest Du nicht von allem anderen, vor allem den Niederungen des Tagesgeschäftes entbunden sein?

Solltest Du nicht den ganzen Tag mit allen Stakeholdern daran arbeiten, die Vision zu verwirklichen? Solltest Du Dich nicht einfach selbst überflüssig gemacht haben?

Sollten Deine Vorstandskollegen nicht reif genug sein, alle Deine aktuellen, aber eigentlich überflüssigen Aufgaben übernehmen zu können? Statt sich zu streiten um Deinen Job? Statt sich gegenseitig die Ellbogen in die Körper zu rammen? Statt ihre Ressorts nicht ebenso zu leben wie Du? Statt Deinen Blick für das Wesentliche zu trüben, weil es ihnen opportun erscheint?

Sollten nicht alle – statt nur an sich selbst – an die Vision glauben, die größer ist als sie selbst? Ihrer Berufung folgen und verstehen, dass dies auf allen Ebenen nur gelingen kann, wenn man sich selbst überflüssig macht, um sich dann 100%ig auf seine wahre Aufgabe konzentrieren zu können? Einerseits loslassen, andererseits sich auf das Richtige konzentrieren zu können. Und – nicht zuletzt – in diesem Sinne mutiges und inspirierendes Vorbild zu sein?

B. Verbrenn’ Dir ruhig mal die Finger, lieber CEO

Vorbildlich …: Die Hand nach dem Neuen ausstrecken. Gierig nach Neuem sein. Die Welt aufsaugen. Ausprobieren, austesten, erweitern, bereichern, verändern.
Grenzen erweitern, die alte Haut abstreifen – es gibt nichts Wichtigeres, um zu wachsen.

Wobei ich nicht unbedingt quantitatives Wachstum meine, das sich allzuoft karzinogen in gesundes Fleisch frisst und alles um sich herum abtötet, nur an sich selbst denkt und dabei über Leichen geht.

Nein, ich meine qualitatives Wachstum. Organisch gesunde Entwicklung in Richtung Perfektion (ohne natürlich diese jemals zu erreichen). Erkennen, dass sich die Welt nicht nur immer schneller unter unseren Füßen dreht, sondern sich auch inhaltlich dramatisch verändert. Zu unserem Besten.

Vorbildlich …:
– Sich selbst infragestellen.
– Neue Erfahrungen machen.
– Die eigene Intuition rekalibrieren.

Nicht länger sich an gestrige Erfolge – einsamen Strohhalmen ähnlich – klammern, sondern loslassen. Sich fallen lassen. Sich treiben lassen. Nicht aus Faulheit, sondern aus Serendipität.

Sich nach der Decke strecken. Nicht jedoch wie mein Großvater dies verstand als ‘man muss sich nach der Decke strecken’, denn die Bettdecke habe nur eine bestimmte Länge, die setze Grenzen. Nein!
Ganz im Gegenteil! Sich nach der Decke strecken. Der Himmel ist die Decke. Unendlichkeit. Unendliche Möglichkeiten, sich zu entwickeln, die Latte höher zu legen, falsche – von aussen oktroyierte, leider längst inhalierte, zur falschen Intuition geronnene – Benchmarks hinter sich zu lassen.

Sich ruhig (mal) die Finger verbrennen an dem Neuen. Sich ruhig mal zu weit aus dem Fenster lehnen. Sich zu weit in unbekanntes Terrain wagen. Die bekannten Horizonte hinter sich lassen.

Die eigene Neugier treibt einen voran. Lasse es zu. Wer rastet, der rostet. Aussen und innen. Der innere Kompass bringt Dich schon sicher zurück.

Kommt hervor hinter dem Ofen. Heraus aus Eurer Comfort Zone. Beendet Eure – und vor allem unsere – Langeweile. Beginnt von vorne. Von mir aus.

Aber eckt an. Eckt endlich an. Lebt Eure eigenen Ecken und Kanten. Reibt Euch. Reibung erst erzeugt Funken, lässt Funken freudvoll sprühen und erzeugt Energie. Nutzt sie. Fördert sie. Fordert sie. Inspiriert. Uns. Verdammt nochmal!

Dein Leben musst Du schon selbst leben

Nach dem Vorbild des Arabischen Frühlings brauchen wir einen Agentur-Frühling, einen Marketing-Frühling. Wir müssen die Diktatur des Kurzfristdenkens ablösen. Die Diktatur der reinen Zahl beenden. Die Achse des Quantitativen zerstören.

Rufen wir die Revolution der Qualität aus. Die Revolution der Kreativität, Vielfalt und Innovation. Die Revolution der und des Einzelnen. Die Revolution des Individuums, des Nutzens, des leidenschaftlichen Engagements.

Entdeckt den CEO in Euch. Reisst die Mauern der tagesgeschäftlichen Labyrinthe, der Arroganz und Ignoranz und Intoleranz nieder. Geht unerschrocken voran. Werdet Vorbilder. Auch wenn niemand gerade guckt. Lebt Eure Vielfalten und Leidenschaften. Lebt Eure Agenturen, statt sie zu managen. Lebt Eure Marken, statt sie zu managen.

Lebt Euer Leben, statt es zu managen.

 

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